Die Wunderfrage von de Shazer – und wie sie im Psychodrama für dich lebendig werden kann
- Tim Krumpholz-Nielitz
- 29. Sept.
- 4 Min. Lesezeit

Heute Morgen sitze ich am Schreibtisch, noch halb im Schlaf, als ich mir selbst die Frage stelle, die ich so oft in Coachings benutze:
„Angenommen, über Nacht geschieht ein Wunder. Dein Thema ist gelöst. Woran würdest du es als Erstes merken?“
Ich schaue aus dem Fenster, die Welt ist leiser als sonst – und schon passiert etwas Merkwürdiges: Mein Körper richtet sich auf. Ich spüre, wie allein die Vorstellung, dass es möglich wäre, etwas löst. Genau deshalb liebe ich die Wunderfrage von Steve de Shazer. Sie zwingt uns nicht, Ursachen zu analysieren, sondern lädt uns ein, Zukunft zu fühlen.
Und im Psychodrama darf diese Zukunft sogar auf die Bühne.
Wenn wir zusammenarbeiten, fangen wir oft dort an: bei der leisen Sehnsucht, dass es leichter gehen darf. Viele erzählen mir dann erst einmal, wie schwer es gerade ist. Das hat seinen Platz. Aber irgendwann kommt der Moment, in dem ich dich bitte, innerlich einen Schritt zur Seite zu treten.
Angenommen, das Wunder ist geschehen. Nicht theoretisch, sondern ganz konkret:
Wie klingt deine Stimme?
Wie bewegst du dich?
Was tust du als Erstes anders?
Im Psychodrama lassen wir diese Antworten nicht im Kopf. Wir stellen sie auf. Wir wählen einen Ort im Raum – dieser ist plötzlich dein Büro, der Esstisch, der nächsten Team-Call.
Wir lassen dich dort als dein gelöstes Ich auftreten. Du nimmst die Haltung ein, die zu diesem „Morgen danach“ passt. Manchmal helfe ich dir mit einem Doppel: Ich stelle mich neben dich und spreche leise Sätze, die vielleicht schon in dir sind, aber noch nicht laut. „Vielleicht würdest du zuerst ausatmen. Vielleicht würdest du den Blick heben und sagen: Ich brauche eine Minute, dann gebe ich eine klare Antwort.“
Wenn es passt, wechselst du in die Rolle einer Kollegin, deines inneren Kritikers oder deines zukünftigen Ichs. Der Raum wird zur Probebühne. Und plötzlich spürst du: Das fühlt sich anders an. Greifbarer. Möglicher.
Einer meiner Lieblingsmomente ist die Zukunftsprojektion: Wir tun so, als wäre das Wunder schon da, und probieren eine konkrete Szene. Du führst das schwierige Gespräch – nicht in echt, aber echt genug, dass dein Körper sich erinnert. Du merkst, wie eine kleine Geste – die Schultern etwas breiter, ein ruhiger Atemzug – dir Stabilität geben. Wir verankern diese Geste. Dein Satz, deine Haltung, dein Blick werden zu einem Ressourcenanker. Wenn du später vor dem Meetingraum kurz die Finger ineinander hakst und einatmest, ist die Erinnerung da: So will ich mich zeigen.
Vielleicht fragst du dich: „Und wenn ich gar nichts spüre?“ Das kenne ich. Dann arbeiten wir nicht mit großen Veränderungen, sondern mit Mikrosignalen. Manchmal ist das Wunder nur ein halber Millimeter: Du lässt eine Pause stehen, bevor du antwortest. Du sagst einen Satz langsamer. Du schiebst einen Termin und erlaubst dir, zehn Minuten zu gehen – wirklich zu gehen, mit den Füßen im Wald, statt gedanklich noch im Postfach zu hängen. Wunder sind oft kleiner, als wir denken. Und genau deshalb sind sie machbar.
Eine Szene aus einer Teamsupervision:
„Angenommen, über Nacht hat sich unsere Zusammenarbeit verbessert – woran merken wir es im nächsten Meeting zuerst?“ Erst Stille, dann leuchten Gesichter. Jemand sagt: „Wir fangen pünktlich an und wissen, worüber wir sprechen.“ Eine andere Person ergänzt: „Feedback ist klar und kurz. Wir entscheiden wirklich.“ Wir bauen das als Szene nach. Es ist ein bisschen komisch, aber auch befreiend – und am Ende nimmt jede:r einen konkreten Mini-Schritt mit. Kein großes Manifest, sondern zwei Sätze für den nächsten Montag. Eine Woche später berichten sie: „Es war ungewohnt – und es hat funktioniert.“
Wenn du magst, probiere es jetzt direkt, ganz ohne viel Theater, nur mit dir:
Schließ kurz die Augen. Stell dir vor, es wäre Nacht, und irgendetwas – du musst gar nicht wissen, was – hat dein Thema gelöst. Morgen früh machst du die Augen auf. Was ist anders? Nicht im Großen, sondern im Kleinen: Dein Atem. Dein Ton. Der erste Satz, den du sagst. Der Weg deiner Füße in die Küche. Schreib drei Sätze auf. Danach frag dich: Wo stehe ich heute auf einer Skala von 0 bis 10? Und dann: Was wäre ein plus 0,5 bis morgen?Das ist dein Mikroschritt. Mehr braucht es oft nicht. Wenn du magst, gib ihm eine Geste: eine Hand auf dem Brustbein, ein bewusster Stand, ein Lächeln, das du dir erlaubst, bevor du sprichst. Diese Geste ist dein Anker. Nimm sie morgen mit.
Was die Wunderfrage so besonders macht, ist ihre Zärtlichkeit. Sie zwingt nichts, sie lockt dich nur in eine andere Richtung: weg vom „Warum ist es so schwer?“ hin zum „Wozu will ich meine Energie einsetzen?“ Im Psychodrama bekommt dieses „Wozu“ eine Stimme, einen Körper, eine Bühne. Und du bekommst eine Erfahrung, die dich trägt, wenn der Alltag wieder lauter wird.
Wenn du Lust hast, deine Wunder-Morgenszene nicht nur zu denken, sondern wirklich zu erleben, begleite ich dich gern – im Coaching, in der Supervision oder im Wald. Wir schauen gemeinsam, was dein halber Schritt ist. Und dann gehen wir ihn. Heute.
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